Europäische Wissenschaftler empfehlen COVID-19-Ziele

Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation initiiert europaweiten Aufruf zur schnellen Reduzierung der COVID-19-Fallzahlen

Hand in Hand über ganz Europa. Wissenschaftler auf dem gesamten Kontinent plädieren für paneuropäische Aktivitäten gegen die Covid-19-Pandemie. © MPIDS

COVID-19-Fälle haben in weiten Teilen Europas zugenommen, was zu wiederholten Abriegelungen führte. "Das Virus respektiert keine Grenzen. So gefährdet eine verstärkte Ausbreitung in einer Region die Stabilität in den benachbarten Regionen. Es ist klar: Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Engagement, um die Fallzahlen zu senken", sagt Viola Priesemann, die einen Aufruf initiiert hat, in dem eine gesamteuropäische Vision zur Bekämpfung der Virusausbreitung gefordert wird.

Mehr als 300 führende Wissenschaftler aus ganz Europa haben den Brief unterschrieben, darunter Eberhard Bodenschatz, Sandra Ciesek, Stephan Herminghaus, Christian Drosten, Clemens Füst, Lothar Wieler sowie die Präsidenten der Deutschen Nationalakademie und der Forschungsverbände. "Die breite europäische Unterstützung quer durch alle Disziplinen war überwältigend: von der Virologie über die Epidemiologie bis hin zur Soziologie und Ökonomie", sagt Priesemann.

Die Eindämmung der enormen Auswirkungen von COVID-19 ist ein gemeinsames Ziel für Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft. Und das Ziel ist klar: Die Fallzahlen in ganz Europa auf konzertierte Weise zu senken. "Einige Länder sind bereits dabei, die Fallzahlen zu senken, und wir können das auch schaffen, aber dazu braucht es die Beteiligung jedes Einzelnen und ein starkes politisches Engagement", sagt Viola Priesemann, Leiterin einer Max-Planck-Forschungsgruppe am MPIDS in Göttingen. Um die Fallzahlen schnell zu senken, sind strikte Eindämmungsmaßnahmen notwendig, und je effizienter diese sind, desto eher können sie wieder aufgehoben werden. Darauf haben Ramin Golestanian und Philip Bittihn schon früh während der Pandemie hingewiesen (Link). Prof. Golestanian, Geschäftsführer am MPIDS und Leiter der Abteilung Physik lebender Materie, sagt: "Es war schnell klar, dass mit geringen Fallzahlen und wenig Austausch zwischen den Bezirken die Ausbreitung von SARS-CoV-2 unterdrückt werden kann und in eingeschränkter Form normaler Alltag zumindest lokal möglich gewesen wäre." Während es keinen überzeugenden Grund gibt, der für hohe Fallzahlen spricht, würden niedrige Fallzahlen ein gutes Gleichgewicht zwischen der Gesunderhaltung der Gesellschaft und der Schonung der Wirtschaft darstellen. "Dies kann erreicht werden, wie wir gezeigt haben, indem man verschiedene kooperative Effekte nutzt, die entstehen, wenn man lokale Lockdowns durchführt", sagte Golestanian.

Der europaweite Aufruf skizziert die Vorteile von niedrigen Fallzahlen und die notwendigen Verpflichtungen. Er wurde kürzlich in der Zeitschrift 'The Lancet' veröffentlicht. Mehr als 300 Mitunterzeichner haben den Brief bereits unterstützt, und die Liste wächst weiter. Eine eigene Webseite, auf der auch Übersetzungen dieser Korrespondenz in vielen Sprachen zur Verfügung stehen, unterstützt die Aktivität der Forscher und ermöglicht das Mitunterzeichnen: https://www.containcovid-pan.eu.

MPIDS an vorderster Front im Kampf gegen COVID-19
Das Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation hat die wissenschaftliche Suche nach dem Verständnis und der Eindämmung der COVID-19-Ausbreitung von Anfang an vorangetrieben. Bereits im März quantifizierten zwei separate Publikationen von zwei MPIDS-Teams die Auswirkungen der Infektionsausbreitung über Deutschland (von Viola Priesemann und Michael Wilczek) und schlugen effiziente Abriegelungsstrategien vor (von Ramin Golestanian und Philip Bittihn). Die beiden Teams setzten dann ihre Arbeit mit weiteren Publikationen zum Verständnis der Dynamik und zur Entwicklung von Mitigationsstrategien fort.

Prof. Eberhard Bodenschatz, Leiter der Abteilung Fluidphysik, Musterbildung und Biokomplexität am MPIDS, und sein Team untersuchen die Rolle von Aerosolen bei der Übertragung und Mitigationsstrategien durch Gesichtsmasken, Belüftung und Aerosolentfernung. Ihre aktuelle Web-App (Link) kann Vorhersagen darüber geben, wann und wie Personen sich sicher treffen können und nicht anstecken. Die App wird derzeit in viele europäische und internationale Sprachen übersetzt. Sein Plenarvortrag bei der Deutschen Physikalischen Gesellschaft hat in Deutschland viel Aufmerksamkeit erregt (Link).  Knut Heidemann und seine Forschungsgruppe konnten im Modell zeigen, dass angesichts des für SARS-CoV-Viren typischen Abklingens der Immunantwort eine Herdenimmunität auch bei optimalen Bekämpfungsstrategien niemals eine praktikable Strategie sein kann.  

"Bei offenen Grenzen in Europa kann ein einzelnes Land allein die Zahl der COVID-19-Fälle nicht niedrig halten; ein gemeinsames Vorgehen der Länder ist unerlässlich. Wir fordern daher eine starke, koordinierte europäische Antwort und klar definierte Ziele sowohl mittelfristig als auch langfristig", heißt es in dem Aufruf. Dies würde die Kontrolle erheblich erleichtern: Je geringer der Zustrom neuer Fälle aus den Nachbarregionen ist, desto geringer sind die Vorkommen vor Ort. "Wenn die Menschen verstehen, dass sie bei niedrigen Fallzahlen deutlich mehr Freiheit und Sicherheit haben und auch die Wirtschaft profitiert, dann hoffe ich, dass wir alle, Bürger und Politiker, motivieren können, bald niedrigere Fallzahlen zu erreichen", so Priesemann. Der Brief und die 300 Unterzeichner appellieren an die Öffentlichkeit und die Politik, mitzumachen.

 

Kontakt
MPIDS Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
+49 551 5176-668
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Originalveröffentlichung
1. Viola Priesemann, Melanie M Brinkmann, Sandra Ciesek, Sarah Cuschieri, Thomas Czypionka, Giulia Giordano, Deepti Gurdasani, Claudia Hanson, Niel Hens, Emil Iftekhar, Michelle Kelly-Irving, Peter Klimek, Mirjam Kretzschmar, Andreas Peichl, Matjaž Perc, Francesco Sannino, Eva Schernhammer, Alexander Schmidt, Anthony Staines, Ewa Szczurek
Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections
The Lancet (published online Dec. 18, 2020)
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