Überraschung beim Alterungsprozess von „aktivem“ Glas

Physiker der Universität Göttingen untersuchen mit Computersimulationen Partikelveränderungen

Ein aktives Teilchen wird durch eine “Energielandschaft” in einen niedrigeren Energiezustand versetzt. Foto: Dr. Rituparno Mandal, Universität Göttingen

Das Altern ist ein Prozess, der nicht nur Lebewesen betrifft. Auch viele Materialien, wie Kunststoffe und Gläser, altern. Sie verändern sich langsam mit der Zeit, da ihre Partikel versuchen, sich stärker zu verdichten. Es gibt bereits Computermodelle, welche diesen Vorgang simulieren. Biologische Materialien, wie lebendes Gewebe, können ein ähnliches Verhalten wie Glas zeigen, allerdings sind die Partikel dann echte Zellen oder Bakterien, die einen eigenen Antrieb haben. Forscher der Universität Göttingen haben nun mit Hilfe von Computersimulationen das Alterungsverhalten dieser „lebenden“ gläsernen Systeme untersucht. Überraschend war, dass die Aktivität der Partikel tatsächlich die Alterung antreiben kann, was mögliche Folgen für eine Reihe von Anwendungen hat. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Physical Review Letters erschienen.

In Materialien wie Glas und Kunststoffen verdichten sich die Partikel mit der Zeit besser. Wird dieser Prozess jedoch durch mechanische Verformung gestört, zum Beispiel, wenn ein Festkörper gebogen wird, kehren die Materialien in ihren früheren Zustand zurück und werden so „verjüngt“. Um zu modellieren, was in biologischen Systemen geschieht, entwickelten die Physiker umfangreiche Computersimulationen. Sie untersuchten ein Glas-Modell, welches aus aktiven Teilchen bestand, quasi ein „aktives Glas“. „Aktiv“ heißt hier, dass ähnlich wie in einem realen biologischen System jedes Teilchen in der Simulation seine eigene Antriebskraft besitzt; diese Kraft hat eine Richtung, die sich in dem Modell über die Zeit zufällig ändert. Dann variierten die Forscher die Zeitskala dieser Richtungsänderungen der aktiven Kräfte. Wenn diese Zeitskala kurz ist, werden die Partikel zufällig angetrieben – als ob sie sich bei einer höheren Temperatur befänden, was bekanntlich zu einer Alterung führt. Bei langsamen Richtungsänderungen versuchen die Teilchen jedoch, in der gleichen Richtung zu bleiben, was wie eine lokale Verformung wirkt und so die Alterung stoppen sollte. Die Simulationen hier haben jedoch etwas Interessantes und Unerwartetes gezeigt: Wenn die Aktivität der Teilchen sehr anhaltend ist, treibt sie tatsächlich die Alterung in lebenden glasartigen Systemen voran.

„Wir waren wirklich überrascht, als wir sahen, dass anhaltender aktiver Antrieb Alterung verursachen kann. Wir hatten erwartet, dass er wie eine kleinräumige Verformung im Material wirkt, die es verjüngt“, kommentiert Erstautor Dr. Rituparno Mandal vom Institut für Theoretische Physik der Universität Göttingen. „Tatsächlich aber ist die lokale Verformung so langsam, dass die Teilchen effektiv mit der Strömung mitgehen und ihre Bewegung nutzen können, um energieärmere Anordnungen zu finden. Tatsächlich verdichten sie sich besser.“ Der leitende Autor, Prof. Dr. Peter Sollich von der Universität Göttingen, fügt hinzu: „Die Forschung hebt wichtige Merkmale des Glasverhaltens in aktiven Materialien hervor, die in herkömmlichen Gläser nicht in vergleichbarer Form auftreten. Dies könnte Auswirkungen auf viele biologische Prozesse haben, bei denen glasartige Effekte festgestellt wurden, darunter das Zellverhalten bei der Wundheilung, die Gewebeentwicklung und die Metastasierung von Krebs.“

Originalveröffentlichung:Mandal R and Sollich P, “Multiple types of aging in active glasses”, Physical Review Letters.URL: link.aps.org/doi/10.1103/PhysRevLett.125.218001
DOI: 10.1103/PhysRevLett.125.218001

Kontakt:
Dr. Rituparno Mandal
Georg-August-Universität Göttingen
Institut für Theoretische Physik
Friedrich Hund Platz 1, 37077 Göttingen, Germany
Telefon: 0551 39 26958
Email: rituparno.mandal(at)theorie.physik.uni-goettingen.de

 Prof. Dr. Peter Sollich
Georg-August-Universität Göttingen
Institut für Theoretische Physik
Email: peter.sollich@theorie.physik.uni-goettingen.de
www.uni-goettingen.de/en/583011.html